Seit 60 Jahren im Dienst der Menschen: Die Lebenshilfe Limburg Diez

Wie wohl kaum eine andere Organisation steht die Lebenshilfe für Integration und Inklusion. Vor sechzig Jahren als „Verein für das geistig behinderte Kind Landkreis Limburg und Unterlahn“ gegründet, ist die Lebenshilfe damit befasst, im Auftrag der Wohlfahrtspflege gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderungen herzustellen. In der Zeit ihres Bestehens wurde schon viel erreicht – aber der zu gehende Weg ist noch lang. Wir trafen Herrn Markus Liebendörfer, den pädagogischen Geschäftsführer der Lebenshilfe Limburg Diez.

Lieber Herr Liebendörfer, die Lebenshilfe Limburg Diez feiert 2024 das 60-jährige Jubiläum – herzlichen Glückwunsch dazu! Vielleicht kurz zur Historie: Wie fing alles an? Wie kam es zur Gründung der Lebenshilfe Limburg Diez?
Gründungstag war der 16.12.1964. Wie an vielen anderen Orten in Deutschland war auch die Lebenshilfe Limburg und Diez Resultat einer Initiative von Eltern, deren Kinder eine Behinderung hatten. Basis dafür war die Gründung der Bundesvereinigung Lebenshilfe im Jahr 1958. Die „Babyboomer-Jahre“ mit hohen
Geburtsraten bedeuteten natürlich auch mehr Menschen, die mit Behinderungen geboren wurden.
Es war die erste Generation nach den finsteren Zeiten des Nationalsozialismus, und die Gründungen der
Lebenshilfen war der erste Schritt, Menschen mit Behinderung vom Rand der Gesellschaft in deren Mitte
zu rücken.
Wie würden Sie die letzten 60 Jahre beschreiben? Wie haben sich die Lebenshilfe und ihre Aufgaben
verändert?

Die Lebenshilfe begann im Kleinen, wie so vieles. Das erste Angebot war das Fritz-Körting-Haus in der
Wiesbadener Straße in Limburg, das Menschen mit Behinderung eine Wohnmöglichkeit gab. Im Laufe der Zeit kamen die Werkstätten dazu. Heute, im sechzigsten Jahr des Bestehens, reicht das Spektrum unserer Aufgaben vom Kindes- bis zum Seniorenalter. Aktuell betreuen wir fast 1.000 Klienten. Es geht um die Kernthemen Leben, Wohnen, Arbeiten. Viele unserer Klienten haben keine reellen Chancen im
freien Arbeitsmarkt. Deshalb machen wir hier berufliche Bildungsangebote, nach deren Abschluss die Klienten entscheiden können, ob sie in einem internen Betrieb arbeiten oder den Schritt nach außen wagen wollen. Denn eines gilt es zu betonen: Arbeit ist ein Lebensrecht. Und hier hat sich viel getan. Bis in die siebziger Jahre waren Menschen mit Behinderungen generell immer in Werkstätten, Betreuer trafen weitreichende Entscheidungen. Das Bundesteilhabegesetz stellt nun das Individuum und dessen Wünsche in den Mittelpunkt. Heute fragen wir die Menschen, wie sie leben, arbeiten und wohnen möchten. Und die Antworten sind die Grundlage unserer Arbeit.

Dieser Perspektivwechsel hat zahlreiche Änderungen hervorgebracht. Früher gab es nur stationäre
Wohnhäuser. Heute gibt es viele Wohnformen, zum Beispiel das Betreute Wohnen, Paare, die
zusammenwohnen, Wohngemeinschaften, Menschen, die nur stundenweise betreut werden und ansonsten ein hohes Maß an Selbständigkeit behalten. Wir tragen also den unterschiedlichen Fähigkeiten unserer Klienten Rechnung.

Diese Ausgabe der AW WELT steht unter dem Thema „Diversität“ – wie würden Sie Diversität definieren?
Richard von Weizsäcker hat es einmal wunderbar in einem Satz zusammengefasst: „Es ist normal, verschieden zu sein.“
Wir bei der Lebenshilfe haben einen sehr klar formulierten Auftrag: Dass jeder Mensch mit Behinderung bei uns aufgenommen wird. Themen wie Nationalität oder Religionszugehörigkeit spielen bei uns absolut keine Rolle. Es ist immer der Mensch, der durch seine besondere Situation Teil unseres Klientenkreises wird. Und das bedeutet große Vielfalt. Wir sehen uns selbst als einen Kreis mit vielen bunten Punkten. Dieses Bild hat sich auch im Titel unseres wunderbaren „Bunte Töne“-Festivals niedergeschlagen, das wir im August dieses Jahres erstmals gefeiert haben. Dort machten Menschen mit und ohne
Beeinträchtigungen miteinander Musik – ein wirklich tolles Event, das vom Limburger Publikum wunderbar angenommen wurde!

Die Lebenshilfe steht wie kaum ein anderer für Diversität und Inklusion. Wie werden diese bei Ihnen
gelebt?

Der Begriff Inklusion beinhaltet sehr viel. Für uns bedeutet er bedingungsfreie Teilhabe. Inklusion ist ja für einige durchaus zum Reizbegriff geworden. Wir arbeiten an jedem neuen Tag daran, dass der Begriff einmal zur Vergangenheit gehört, weil er sich überlebt hat. Denn unsere tägliche Arbeit ist das Miteinander von Menschen mit Handicap und das Finden von Lösungen. Es geht beispielsweise um
Menschen im Betreuten Wohnen, die jedermanns Nachbarn sein könnten – aber Begleitung brauchen.
Diese Begleitung, die die Lebenshilfe anbietet, macht die Erfüllung von alltäglichen Wünschen möglich: Vom Kirchgang über den Kinobesuch bis zum Konzertereignis. Einige unserer Klienten haben Probleme, Wünsche zu formulieren. Wir müssen diese Probleme lösen, teilweise auch durch den Einsatz von Computern und technischen Hilfsmitteln. Es geht immer um den Abbau von Barrieren, seien es zu hohe Bordsteine oder eben sprachliche Probleme.

Wie würden Sie die Zusammenarbeit mit den Unternehmen aus der Region beschreiben? Inwiefern
gelingt die berufliche Integration im Jahr 2024?

Wir beschäftigen uns mit diesem Thema seit knapp dreißig Jahren. Es ist noch immer so, dass hier großer
Aufklärungsbedarf herrscht, weil Betriebe oft über Fördermöglichkeiten und die Unterstützung, die die Lebenshilfe hier leisten kann, nicht informiert sind. Es gibt durchaus einige Unternehmen, die sehr sozial
aufgestellt und kooperativ sind, aber generell ist noch sehr viel Luft nach oben.
Es ist Gesetz, dass ab einer Mitarbeiterzahl von zwanzig die Integration von Schwerbehinderten Pflicht ist. Wird die Quote von 5% nicht erreicht, wird eine Abgabe fällig. Doch auch wenn der Fachkräftemangel immer problematischer wird, scheint für viele Unternehmen ein sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis noch immer abschreckend zu wirken: Die bundesweite Vermittlungsquote von Menschen mit Behinderungen aus Werkstätten in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis
bewegt sich seit Jahren unter einem Prozent (0,8 %). Wir müssen es schaffen, den wirtschaftlichen Rahmen für die Unterstützung zu vergrößern. Eine Zusammenarbeit darf nicht nur ein Gewinn für die Lebenshilfe und die Gesellschaft generell sein, sondern auch das Unternehmen muss davon profitieren.

Hier müssen wir kreative, neue Wege gehen. Wir wollen zum Beispiel in der Zukunft die Idee realisieren, kleinere oder größere Arbeitsgruppen aus den Werkstätten herauszunehmen und direkt in Unternehmen zu platzieren. Deren Ware wird dann nicht mehr zur Bearbeitung zu uns gebracht, sondern die Gruppe arbeitet ein halbes Jahr lang im Betrieb mit. Ein solches Vorgehen wird nicht nur Zeit sparen, sondern ein inklusives Erlebnis für unsere Klienten und für die Mitarbeitenden der Unternehmen darstellen.

Hat sich in den letzten Jahren diesbezüglich viel verändert?
Bei aller Veränderung bleibt es ein oft mühseliger und kleinteiliger Prozess. Die Reife der Gesellschaft ist noch nicht so, dass unnötige Vorbehalte abgebaut wären. Wir sehen darin durchaus einen Auftrag an die Lebenshilfe, diese Vorurteile zu bekämpfen. Das ist bundesweit ein langer, steiniger Weg. Politische Vorgaben von oben müssten anders formuliert werden, mehr Druck auf die Unternehmen wäre nötig. Zusammenarbeit auf freiwilliger Basis ist gut und schön, aber Inklusion wird nur in Kooperation mit allen
Beteiligten funktionieren, also auch der Politik.

Eine Frage zum Alltag: Was können Sie als Lebenshilfe Limburg Diez über die Arbeit über Landkreisgrenzen und Landesgrenzen hinweg sagen?
Wir sehen uns in der Region verwurzelt und bemühen uns immer um den ganzheitlichen Blick. Aber in der Tat haben wir ja beispielsweise das Wohnhaus in der Oraniensteiner Straße in unmittelbarer Nähe der Diezer Altstadt, aber auch Einrichtungen in Limburg. Die Herausforderung besteht darin, dass das
Bundesteilhabegesetz ein Bundesgesetz ist, die Umsetzung aber im Verantwortungsbereich der Länder liegt. Der Hauptleistungsträger der Lebenshilfe Limburg Diez in Hessen ist der Landeswohlfahrtsverband Hessen. Wenn nun beispielsweise ein Bewohner eines Limburger Hauses nach Diez und somit in das benachbarte Rheinland-Pfalz umzieht, hat er völlig andere Leistungen zu erwarten – es gibt keine festen Standards. Für die Lebenshilfe ist der administrative Aufwand dadurch erheblich größer, weil man es des Öfteren mit zwei Verhandlungspartnern zu tun hat. Aber mit dieser Situation sehen sich natürlich auch
viele andere Unternehmen konfrontiert. Wie gesagt: Diese Herausforderung nehmen wir gerne an – für uns ist wichtig, fester Bestandteil unserer Region zu sein.

Wann begann die Zusammenarbeit mit der Bauunternehmung Albert Weil AG? Wie kam es dazu?
Die Albert Weil AG ist seit Beginn der „Ich-helfe-weil“- Netzwerkarbeit im Jahre 2011 dabei (www.ich-helfe-weil. de). Auszubildende des Unternehmens haben bei einem Freiwilligeneinsatz hier in der Wiesbadener Straße ein Areal für die Tagesförderstätte gepflastert – und bei den Eppenau-Festen auf dem Gelände der Lebenshilfe das Festzelt aufgebaut. Aus dieser Kampagne ist mittlerweile ein veritables
Partnernetzwerk entstanden, das rund 50 Partner umfasst – hauptsächlich in der Region beheimatete Unternehmen und Selbständige. Das Ich-Helfe-Weil-Partnernetzwerk ist nicht etwa ein Sponsorenzirkel. Die Mitwirkung ist völlig freiwillig. Mit einem Foto und einem Statement treten die Netzwerk-Partner auf Plakatwänden in die Öffentlichkeit, zeigen soziale Verantwortung und regen andere dazu an,
sich ebenfalls sozial zu engagieren.

Wie hat sich die Zusammenarbeit entwickelt?
Wie bereits erwähnt, stehen wir mit der Albert Weil AG schon viele Jahre in Kontakt. Im vergangenen Jahr waren wir im Rahmen des Ich-Helfe-Weil-Netzwerkes zu Gast bei der Albert Weil AG. Die Verantwortlichen sind sich immer ihrer Wurzeln bewusst geblieben. Diese Verbundenheit mit der Region zeigt sich auch im Sozialen Engagement der Albert Weil AG. Wir als Lebenshilfe Limburg Diez durften und dürfen auch in der Zukunft davon profitieren.

Welche Herausforderungen sehen Sie?
Noch immer gibt es zu viele Menschen und Unternehmen, die einfach nicht wissen, was die Lebenshilfe tut. Unsere tägliche Arbeit, unser Wirken für Menschen mit Behinderungen, wollen wir noch klarer kommunizieren. Unsere Expertise besteht darin, deren Lebensqualität zu erhöhen. Dafür mischen wir uns ein, dafür wollen wir als wichtige regionale Facette gesehen werden. Die Tür der Lebenshilfe steht für gemeinsame Projekte immer offen, und auch wir wollen verstärkt auf Unternehmen zugehen. Denn klar ist auch: Der Fachkräftemangel bringt immer mehr Unternehmen zu uns, die darüber nachdenken, wie weniger hochqualifizierte Arbeiten durch unsere Werkstätten ausgeführt werden können. Das wird Veränderungen für unsere Werkstätten mit sich bringen, denn immer mehr Klienten werden in externe Betriebe wechseln. Hierbei ist wichtig zu wissen, dass für Menschen mit Behinderung die Rückkehrmöglichkeit in unsere Werkstätten gesetzlich garantiert ist. Der sich öffnende Arbeitsmarkt wird bewirken, dass wir unsere Leistungsträger in die Betriebe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt abgeben werden. Auch dadurch stellen wir die Teilhabe an Arbeit für unsere Menschen sicher.

Und welche Chancen?
Das tägliche Miteinander in der Lebenshilfe sorgt dafür, dass Menschen mit und ohne Handicap bei der Lebenshilfe aufblühen. Nur in Organisationen wie der Lebenshilfe kann es zum Beispiel möglich werden, dass ein Mitglied unserer Lebenshilfe-Band bei der Italienischen Gemeinde Limburgs
den Organistenposten übernimmt!

Und bei aller gebotenen Bescheidenheit: Die Lebenshilfe ist mittlerweile Arbeitgeber von 560 hauptamtlichen Mitarbeitenden. Circa 950 belegte Betreuungsplätze gibt es in unseren Einrichtungen. Etwa 500 Menschen arbeiten in den fünf Werkstätten in Limburg, Runkel und Diez. Im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen immer die betreuten Menschen und ihre Angehörigen – für ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben. Und eines steht fest: Die Werkstätten sind ein integraler Bestandteil des Arbeitsmarktes – und werden das auch immer bleiben.

Letzte Frage, lieber Herr Liebendörfer: Welche Gedanken und Ideen möchten Sie der Firma Albert Weil und den heimischen Unternehmen generell in Hinsicht auf die Lebenshilfe mitgeben?
Vor allem, weil es eine so beeindruckende Zahl ist: Über 90% der Behinderungen von Menschen sind nicht
angeboren, sondern kommen im Lauf des Lebens. Ob körperlich oder geistig oder psychisch – es handelt sich um Menschen, die auch das „andere Leben“ kennen, jetzt aber Unterstützung benötigen. Es ist den meisten nicht bewusst, aber eine Tatsache: Es kann jeden treffen. Und dann kommt die Lebenshilfe mit ihren vielfältigen Angeboten ins Spiel.

Vielen Dank für das offene Gespräch, Herr Liebendörfer. Wir wünschen der Lebenshilfe zum
Jubiläum alles Gute und viel Erfolg bei der täglichen Arbeit, das Thema Inklusion überflüssig zu machen!